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Dieser Artikel handelt über Selbstmitgefühl, einem essenziellen Aspekt des persönlichen Wohlbefindens, der oft übersehen wird. In unserer hektischen Welt, in der Leistungsdruck und hohe Erwartungen allgegenwärtig sind, ist es wichtiger denn je, freundlich und verständnisvoll mit uns selbst umzugehen.
Dr. Kristin Neff, eine Pionierin auf dem Gebiet der Selbstmitgefühl-Forschung, definiert Selbstmitgefühl als die Fähigkeit, sich selbst in Zeiten des Leidens, des Scheiterns oder der Unzulänglichkeit die gleiche Fürsorge und Freundlichkeit entgegenzubringen wie einem guten Freund. Diese innere Haltung der Selbstakzeptanz und des Verständnisses hilft uns, besser mit schwierigen Situationen umzugehen und unser emotionales Gleichgewicht zu bewahren.
Inhaltsverzeichnis
1. Selbstmitgefühl und Selbstfürsorge
Es ist wichtig, Selbstmitgefühl von Selbstfürsorge zu unterscheiden. Das Konzept der Selbstfürsorge umfasst konkrete Handlungen, die das Wohlbefinden fördern. Dazu gehören beispielsweise eine gesunde Ernährung, ausreichend Schlaf und regelmäßige Bewegung. Diese Maßnahmen tragen wesentlich dazu bei, unseren Körper und Geist gesund zu halten und uns gegen die alltäglichen Belastungen zu wappnen. In einem zukünftigen Artikel werde ich darauf genauer eingehen.
Das Konzept des Selbstmitgefühls nach Dr. Neff, hingegen ist eine innere Haltung der Freundlichkeit und des Verständnisses gegenüber sich selbst, insbesondere in schwierigen Zeiten. Es geht darum, sich selbst in Momenten der Schwäche oder des Versagens nicht zu verurteilen, sondern sich mit der gleichen Wärme und Güte zu begegnen, die man einem guten Freund entgegenbringen würde.
In diesem Artikel werden wir die drei Wege zu mehr Selbstmitgefühl erkunden, die Dr. Neff in ihrem Buch „Self-compassion: The proven power of being kind to yourself“ erklärt: Selbstfreundlichkeit, Anerkennung der gemeinsamen menschlichen Erfahrung und Achtsamkeit. Am Ende dieses Artikels wirst du die drei Prinzipien besser in deinen Alltag integrieren können, um dir selbst mit mehr Mitgefühl und weniger Härte zu begegnen.
2. Die drei Kernkomponenten nach Dr. Kristin Neff
Selbstmitgefühl ist ein kraftvolles Konzept, das uns helfen kann, ein gesünderes und erfüllteres Leben zu führen. Dr. Kristin Neff, eine führende Expertin auf diesem Gebiet, hat Selbstmitgefühl in drei wesentliche Komponenten unterteilt. Um wirklich selbstmitfühlend zu sein, müssen wir diese drei Elemente kombinieren und in unser Leben integrieren.
- Selbstfreundlichkeit: Sei sanft und verständnisvoll mit dir selbst, anstatt hart und kritisch. Behandle dich in schwierigen Zeiten wie einen guten Freund – mit Fürsorge und Unterstützung.
- Gemeinsame Menschlichkeit: Erkenne, dass Leiden und Fehler ein universeller Bestandteil des Menschseins sind. Fühle dich mit anderen verbunden und nicht isoliert durch dein Leiden.
- Achtsamkeit: Halte deine Erfahrungen in einem ausgewogenen Bewusstsein, ohne Schmerz zu ignorieren oder zu übertreiben. Sei im gegenwärtigen Moment präsent und anerkenne deine Emotionen, ohne sie zu bewerten.
Diese drei Komponenten sind alle gleich wichtig und müssen miteinander kombiniert werden, um echtes Selbstmitgefühl zu erreichen. In den folgenden Kapiteln werden wir uns jede dieser Komponenten einzeln ansehen, beginnend mit der vielleicht offensichtlichsten Zutat des Selbstmitgefühls: der Selbstfreundlichkeit.
3. Selbstfreundlichkeit – Dein erster Schritt zu mehr Selbstmitgefühl
Selbstfreundlichkeit bedeutet, dass wir mit der ständigen Selbstkritik und dem abwertenden inneren Monolog aufhören, den viele von uns als normal ansehen. Es erfordert, dass wir unsere Schwächen und Misserfolge verstehen, anstatt sie zu verurteilen. Selbstfreundlichkeit beinhaltet, klar zu erkennen, wie sehr wir uns durch unablässige Selbstkritik selbst schaden, und diesen inneren Krieg zu beenden. Aber Selbstfreundlichkeit geht über das bloße Aufhören der Selbstverurteilung hinaus. Es bedeutet, dass wir uns aktiv trösten und uns so behandeln, wie wir einen lieben Freund in Not behandeln würden. Das heißt, wir erlauben uns, emotional von unserem eigenen Schmerz berührt zu werden, und sagen uns: „Das ist gerade wirklich schwierig. Wie kann ich mich in diesem Moment um mich selbst kümmern und trösten?“ Mit Selbstfreundlichkeit beruhigen und besänftigen wir unseren gestressten Geist. Wir bieten uns selbst Wärme, Sanftheit und Mitgefühl an, sodass echte Heilung stattfinden kann.
In unserer westlichen Kultur wird viel Wert daraufgelegt, freundlich zu unseren Freunden, Familienmitgliedern und Nachbarn zu sein, besonders wenn sie Schwierigkeiten haben. Aber wenn es um uns selbst geht, sieht die Sache oft ganz anders aus. Wenn wir einen Fehler machen oder in irgendeiner Weise scheitern, neigen wir eher dazu, uns selbst hart zu kritisieren, anstatt uns unterstützend die Hand auf die Schulter zu legen. Die Vorstellung, sich selbst in solch schwierigen Momenten zu trösten, erscheint uns oft absurd. Selbst wenn unsere Probleme von äußeren Kräften verursacht werden, gilt Selbstfreundlichkeit in unserer Kultur nicht als wertvolle Reaktion. Irgendwo auf dem Weg haben wir die Botschaft erhalten, dass starke Individuen stoisch und still gegenüber ihrem eigenen Leiden sein sollten.
Es gibt auch neurologische Beweise dafür, dass Selbstfreundlichkeit und Selbstkritik sehr unterschiedlich im Gehirn wirken. Selbstkritik ist mit Aktivitäten im lateralen präfrontalen Cortex und dem dorsalen anterioren cingulären Cortex verbunden. Das sind Bereichen des Gehirns, die mit Fehlerverarbeitung und Problemlösung in Zusammenhang stehen. Freundlichkeit und Beruhigung gegenüber sich selbst waren hingegen mit der Aktivierung des linken Temporallappens und der Insula verbunden. Diese Bereiche des Gehirns, die mit positiven Emotionen und Mitgefühl in Verbindung stehen. Durch Übung kann auch das Gehirn trainiert werden, schneller auf Selbstmitgefühl, als auf Selbstkritik anzuspringen. Statt uns selbst als Problem zu sehen, das behoben werden muss, ermöglicht uns Selbstfreundlichkeit, uns selbst als wertvolle Menschen zu sehen, die Fürsorge verdienen.
Mögliche Übungen:
- Positive Selbstgespräche: Versuche, dir selbst liebevolle und ermutigende Worte zu sagen, besonders in schwierigen Momenten. Anstatt dich zu kritisieren, sage dir selbst: „Es ist okay, Fehler zu machen. Ich lerne und wachse.“ Hier habe ich dir 10 wirkungsvolle Affirmationen erstellt, durch die du zu mehr Selbstmitgefühl und Verständnis für dich, kommst.
- Sich selbst Verzeihen: Erkenne an, dass Fehler ein Teil des menschlichen Daseins sind. Verzeihe dir selbst für vergangene Fehler und lerne, nachsichtig mit dir zu sein.
Indem du diese Übungen in deinen Alltag integrierst, kannst du lernen, dir selbst gegenüber freundlicher und mitfühlender zu sein. So kannst du dich selbst unterstützen und stärken, anstatt dich ständig zu kritisieren.

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4. Die Gemeinsamkeit des menschlichen Erlebens – Dein zweiter Schritt zu mehr Selbstmitgefühl
Hast du jemals das Gefühl gehabt, dass du der einzige Mensch auf der Welt bist, der Schwierigkeiten durchmacht oder Fehler macht? Wenn ja, bist du nicht allein. Jeder Mensch erlebt Herausforderungen und macht Fehler. Das ist ein universeller Teil des Menschseins. Das Bewusstsein der gemeinsamen menschlichen Erfahrung kann das Gefühl der Isolation verringern und Empathie fördern.
Zu verstehen, wie unsere Leben miteinander verknüpft sind und die Natur des Lebens selbst anzuerkennen, hilft uns. Selbstakzeptanz und Selbstliebe sind wichtig, aber sie sind unvollständig, wenn sie andere Menschen nicht einbeziehen. Mitgefühl ist per Definition relational. Das Wort „Mitgefühl“ bedeutet wörtlich „mitfühlen“, was eine grundlegende Gegenseitigkeit im Erleben von Leiden impliziert. Der Ursprung des Mitgefühls liegt in der Erkenntnis, dass die menschliche Erfahrung unvollkommen ist. Warum sonst sagen wir „Es ist nur menschlich“, um jemanden zu trösten, der einen Fehler gemacht hat? Selbstmitgefühl würdigt die Tatsache, dass alle Menschen fehlbar sind, dass falsche Entscheidungen und Gefühle des Bedauerns unvermeidlich sind, egal wie hoch und mächtig man ist.
Wenn wir in Kontakt mit unserer gemeinsamen Menschlichkeit sind, erinnern wir uns daran, dass Gefühle der Unzulänglichkeit und Enttäuschung von allen geteilt werden. Dies unterscheidet Selbstmitgefühl von Selbstmitleid. Während Selbstmitleid sagt: „armes ich“, erinnert Selbstmitgefühl daran, dass jeder leidet, und bietet Trost, weil jeder Mensch ist. Der Schmerz, den ich in schwierigen Zeiten fühle, ist derselbe Schmerz, den du in schwierigen Zeiten fühlst. Die Auslöser sind unterschiedlich, die Umstände sind unterschiedlich, der Grad des Schmerzes ist unterschiedlich, aber der Prozess ist derselbe. Man kann nicht immer bekommen, was man will. Das gilt für alle. Leider konzentrieren sich die meisten Menschen nicht auf das, was sie mit anderen gemeinsam haben, besonders wenn sie sich schämen oder unzulänglich fühlen. Sie fühlen sich eher isoliert und von der Welt um sie herum getrennt, wenn sie scheitern, anstatt es als menschliche Erfahrung einzuordnen.
Wenn wir uns auf unsere Schwächen konzentrieren, ohne das größere menschliche Bild zu betrachten, neigt unsere Perspektive dazu, sich zu verengen. Wir werden von unseren eigenen Gefühlen der Unzulänglichkeit und Unsicherheit absorbiert. Wenn wir uns in dem engen Raum der Selbstverachtung befinden, scheint es, als ob der Rest der Menschheit nicht einmal existiert. Dies ist kein logischer Denkprozess, sondern eine Art emotionale Tunnelvision. Die entstehenden Gefühle der Unwürdigkeit gehen Hand in Hand mit dem Gefühl, von anderen und vom Leben getrennt zu sein. Je unzulänglicher wir uns fühlen, desto getrennter und verletzlicher fühlen wir uns.

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5. Achtsamkeit – Dein dritter Schritt zu mehr Selbstmitgefühl
Achtsamkeit, auch bekannt als Mindfulness, hat in den letzten Jahren viel Aufmerksamkeit erhalten, und das aus gutem Grund. Doch was genau bedeutet Achtsamkeit und welche Rolle spielt sie bei der Förderung von Selbstmitgefühl?
Achtsamkeit bedeutet, im gegenwärtigen Moment voll und ganz präsent zu sein, ohne zu urteilen. Es geht darum, deine Gedanken, Gefühle und körperlichen Empfindungen bewusst wahrzunehmen, anstatt sie zu ignorieren oder automatisch darauf zu reagieren. Diese bewusste Aufmerksamkeit hilft dir, eine klarere und tiefere Verbindung zu dir selbst und deiner Umgebung zu entwickeln. Im Alltag bedeutet Achtsamkeit, dass du nicht in der Vergangenheit verweilst oder dir über die Zukunft Sorgen machst. Stattdessen nimmst du jeden Moment so wahr, wie er ist. Dies kann eine kraftvolle Methode sein, um Stress abzubauen und ein tieferes Gefühl des Wohlbefindens zu fördern.
Eine der wichtigsten Rollen der Achtsamkeit ist es, dir zu helfen, deine Gefühle zu erkennen und anzunehmen, ohne sie zu unterdrücken oder zu verstärken. LINK Dies ist besonders wichtig für das Entwickeln von Selbstmitgefühl. Hier sind einige Gründe, warum:
- Bewusstes Erleben von Gefühlen:
Achtsamkeit ermöglicht es dir, deine Gefühle klar zu erkennen, wenn sie auftreten. Anstatt sie zu verdrängen oder zu ignorieren, nimmst du sie bewusst wahr. Zum Beispiel, wenn du dich gestresst oder traurig fühlst, hilft dir Achtsamkeit, diese Emotionen zu erkennen und zu akzeptieren, anstatt sie wegzuschieben.
- Akzeptanz statt Verdrängung:
Indem du deine Gefühle akzeptierst, wie sie sind, ohne sie zu bewerten oder zu verurteilen, kannst du sie leichter verarbeiten. Das bedeutet nicht, dass du deine negativen Gefühle mögen musst, aber du erkennst an, dass sie da sind, und gibst ihnen den Raum, den sie brauchen.
- Verminderung von Reaktivität:
Achtsamkeit hilft dir, weniger reaktiv auf deine Gefühle zu reagieren. Anstatt automatisch auf negative Emotionen mit Selbstkritik oder Verurteilung zu reagieren, kannst du innehalten und bewusst entscheiden, wie du darauf reagieren willst. Dies schafft Raum für Selbstmitgefühl und ermöglicht es dir, freundlicher und sanfter mit dir selbst umzugehen.
Durch Achtsamkeit lernst du, deine Gefühle zu erkennen und zu akzeptieren, ohne sie zu unterdrücken oder zu verstärken. Dies schafft die Grundlage für mehr Selbstmitgefühl, da du dir selbst mit mehr Verständnis und Freundlichkeit begegnen kannst. Indem du bewusst und achtsam lebst, kannst du ein tieferes Gefühl der Ruhe und des Wohlbefindens entwickeln.
Wenn du mehr über mentales Wohlbefinden erfahren möchtest, schau dich gerne auf diesem Blog um. Schreibe mir gerne Themenvorschläge an die Mailadresse: psychologie@lea-link.de. Wenn du Interesse an einem Coaching oder einer systemischen Beratung hast, kannst du
mich auch gerne kontaktieren. Bis bald!
Quellen:
Neff. K. (2011). self-compassion: The proven power of being kind to yourself. hachette UK:
